Kinski und ich

Sommer 1971. Flugplatz Achum. Ich saß im Schatten des Towers im Sanka. Rechts neben mir auf dem Beifahrersitz der Gefreite Schaub, der, um sich einen intellektuellen Anstrich zu geben, stets eine Brille mit Fensterglas trug, links neben uns der Feuerwehrwagen. Wir hatten nichts zu tun, als das Flugfeld zu beobachten und im Falle eines Falles loszudüsen und zu retten und zu bergen.

Schaub erzählte begeistert von einer LP, die er sich kürzlich zugelegt hatte. Mit von Klaus Kinski vorgetragenen Balladen François Villons. Kinski, den kannte ich bis dahin nur von einigen Wallace-Krimis, die mich aber kalt ließen, Filme von Werner Schroeter und Rosa von Praunheim mit Magdalena Montezuma waren damals gerade mein Ding.

Infiziert von Schaubs Begeisterung, fuhr ich sofort nach Dienstschluß nach Bückeburg und kaufte mir die Platte. Am Freitag konnte ich sie mir endlich anhören.

Du ... ich bin so wild nach deinem Erdbeermund,
ich schrie mir schon die Lungen wund
nach deinem weißen Leib, du Weib.

Die dicken Fresser in Kamelhaar-Kutten,
die frommen Nonnen und die Kardinäle
mit ihren parfümierten Luxusnutten,

Mein sehr verehrter Landesherr: zuvor
ergebnen Gruß. Ich bin zwar kein berühmter Mohr,
kein Kardinal, Minister oder so,
ich heiße kurz Villon, mein Weib geht auf den Strich
und ich, ich äh schreibe manchmal ein Gedicht,
das heißt für mich, privatim nur.

Das war etwas anderes als das spießige Zeug, das wir in der Schule lernen mußten, das war von unten, rebellisch, anti-bürgerlich, in einer Sprache, die durchsetzt von den vulgären Worten der Straße den Herrschenden direkt ins Gesicht furzte.

Ich hörte die Platte wieder und wieder, ganze Abende lief nichts anderes, lernte die Texte auswendig, belästigte meine Freunde damit, wo sich die Gelegenheit bot, so nahe an Kinskis Tonfall, wie es nur ging – kriege ich heute nicht mehr hin. Später wagte ich es auch, die Balladen öffentlich vorzutragen, an den Jekami-Abenden im Nörgelbuff für eine Gage von drei halben Litern pro Auftritt.

Nach dieser ersten Hochzeit köchelte meine Begeisterung für die Balladen Villons und die Vortragskunst Kinskis ein Vierteljahrhundert nur noch auf Sparflamme. Bis das Internet kam und ich meine erste Webseite bastelte: Triptychon der Wortgewalt, Kinski, Villon und Boris Vian gewidmet. Als es mich 2000 beruflich wieder nach Göttingen verschlug, konnte man mich Samstag für Samstag in der UB finden, wo ich meine privaten Forschungen zu diesen drei Größen betrieb, wollte ich doch auf meiner Seite hieb- und stichfeste Fakten liefern und nicht die gängigen stereotypen Lobhudeleien bzw. Herabsetzungen anhäufen.

Ich mochte Kinski als Rezitator, wenige als Schauspieler, der er nie war. Mir kam es auf seine Stimme an und die war in den besseren Filmen, denen von Herzog, nur in der englischen Originalfassung zu hören, in den deutschen Fassungen wurde er, außer im Woyzeck, aus finanziellen Gründen stets fremd-synchronisiert, im Aguirre zum Beispiel von Gert Martienzen, der u.a. auch Louis de Funès seine Stimme lieh.

Beim Solo auf der Bühne, da war Kinski in seinem Element; die Texte hat er nie gelesen, immer auswendig mit den für ihn typischen Änderungen deklamiert, ob es die Villon-Balladen waren oder Hauptmanns Novelle ‹Der Ketzer von Soana› oder der Traum des Raskolnikow aus Schuld und Sühne.

Als ich meine erste Begegnung mit dem Rezitator Kinski hatte, war es zwei Jahrzehnte her, daß der sich in Berlin zusammen mit Brecht die Gedichte von Villon und Rimbaud erarbeitet und zuerst im Café Melodie und in Valeska Gerts Hexenküche vorgetragen hatte, eineinhalb Jahrzehnte, seit er auf einer literarischen Matinee zum 50-jährigen Jubiläum der Wiener Leichenbestattung mit dem kürzesten Faust-Monolog aller Zeiten für Furore gesorgt hatte (10.000 Schilling Gage für drei Minuten) und von der Plattenfirma Amadeo entdeckt worden war, ein Jahrzehnt seit seinen beiden Deutschlandtourneen mit Gedichten von Villon, Rimbaud, Wilde, Majakowski und Schiller sowie großen Monologen der Weltliteratur: zwei Millionen Besucher=innen insgesamt.

In ihrem Nachruf schreibt die Grazer Feministin Heidi Pataki 1991, Kinski sei damals lange vor den Beatles und den Stones der erste Pop-Star gewesen, sozusagen der Mick Jagger der gebildeten Stände. Dieser Kinski, der die Texte gegen den Strich bürstete, brüllte, wo sie ruhig, und flüsterte, wo sie leidenschaftlich waren, dieser Kinski war mein Kinski.

War. Präteritum. Einmal, weil er Anfang der 60er die Bühne verlassen und sich dem schwachsinnigen deutschen Film in die Arme geworfen hatte, meine Begeisterung für ihn daher bei meiner ersten Begegnung, dem Erdbeermund, eigentlich schon reine Nostalgie. Es gab ihn nicht mehr, diesen Kinski. Einzige Konstante waren die berühmt-berüchtigten Wutausbrüche. Aber die waren schon beim Bühnen-Kinski kalkulierte Inszenierung, deretwegen auch viel literarisch kaum interessiertes Publikum in seine Aufführungen strömte. Auch beim Film-Kinski waren sie nicht spontan. Es gibt da einen Briefwechsel zwischen Herzog und Kinski, in dem sie vorher ausmachen, welche Beleidigungen sie sich gegenseitig an den Kopf werfen wollten, um sie hernach einem schockierten Publikum als angebliche Dokumentation zu präsentieren. Ja, die beiden wußten genau, wie man dem Affen Zucker gibt.

Zum anderen ist mir Kinskis Vortragsmanier, zischelnd, flüsternd, schluchzend, schreiend, tobend, im Grunde eine expressionistische Nachwehe, mehr und mehr fremd geworden, vielleicht eine Frage des Alters. Ich bevorzuge inzwischen einen lakonischeren Stil.

Das sind meine Gründe für die zunehmende Distanz zu meinem einstigen Idol. Die Vorwürfe des Mißbrauchs seiner eigenen Tochter spielen dabei nur am Rande eine Rolle. Sie können weder verifiziert noch falsifiziert werden. Aber zuzutrauen wäre es ihm.

Ich habe hier noch die unzensierte Erstausgabe seiner Autobiografie ‹Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund›. Gegen die Passagen darin, in denen er seinen ersten Sex mit seiner Mutter und seiner Schwester schildert, ist die Familie gerichtlich vorgegangen und hat sie streichen lassen. Ob sie wahr sind oder bloß ausgedacht, wissen nur die Beteiligten oder eben Nicht-Beteiligten. Weitaus schwerer fällt Kinskis Vorliebe für sehr junge Frauen ins Gewicht, die mit zunehmendem Alter immer deutlicher hervortrat. So heiratete er mit 43 die damals 19-jährige Geneviève Minhoï und war mit 60 mit der 18-jährigen Debora Caprioglio liiert. In dieser Hinsicht erinnert er mich sehr an Roman Polanski. Wie gesagt, zuzutrauen wäre es ihm, aber es läßt sich nicht mehr klären und ist auch nicht der Grund für meine heutige Distanz. Ich kann halt nichts mehr anfangen mit dieser übertrieben ekstatischen Ausdrucksweise und mit seiner Allüre als Bühnengott, der bei jedem Räuspern seine Zornesblitze ins sündige Publikum schleudert. Tut mir leid.