Lenin DADA

Am 5. Februar 1916 eröffneten Hugo Ball und Emmy Hennings in der Spiegelgasse 1 mitten im Rotlichtviertel in Zürich das Cabaret Voltaire: einige Wochen später taufte Lenin, der damals nur wenige Meter entfernt in der Spiegelgasse 14 wohnte, die dort tobende neue Kunst auf den Namen DADA:

Im verrauchten Lokal drängt sich das Publikum stehend bis an den Rand der kleinen Bühne, die selber von einer fröhlichen Schar überquillt. Zwei Projektoren werfen gigantische Schatten auf die schelmischen Witzbolde, die dort einen großen Sabbat vollfuhren: Tzara, Marcel Janco, Ball, Huelsenbeck, Madame Hennings und Arp. Die Leute um sie herum schreien, lachen, gestikulieren. Wellenförmig bewegt sich die Masse manchmal zur Bar hin, dann von ihr weg: Augenblicklich schnappen zehn Hände nach den Bier-Humpen, die eben auf einem Tablett gereicht worden sind. Auf der Bühne spielt Janco eine unsichtbare Geige, schlägt Huelsenbeck unaufhörlich eine Kesselpauke – diese ist sehr real –, während Ball, kreideweiß wie ein gediegenes Gespenst, ruckhaft auf dem Klavier spielt. Madame Hennings mit ihrem Madonnengesicht versucht, in die Grätsche zu gehen. Und während alle dies tun, stoßen sie Liebesseufzer, Salven von Rülpsern, Gedichtbrocken, »Muh, Muh« und »Miau, Miau« mittelalterlicher Bruitisten aus. Zum erbarmungslos regelmäßigen Rhythmus der Kesselpauke läßt Tzara lasziv seinen Hintern hüpfen wie eine orientalische Tänzerin den Bauch. In der zweiten oder dritten Reihe klatscht ein Kerl mit Schirmmütze, dessen Schnauz und kleiner Bart ein wenig die mongoloiden Züge des Gesichtes verbergen, schon ganz rot vom Alkohol und von der Aufregung, hingerissen den Rhythmus mit und billigt jetzt mit lauter Stimme die wirbelnde Zappelei: »Da! da! Da! da!« schreit Lenin im Takt, und Janco stimmt sogleich ein. Zuerst verdutzt, nimmt nun auch die Masse im Chor die schlagenden slawischen Laute auf. »Da! da!« Mit anderen Worten: ja! ja! Ja zu Tzara! Ja zum Orient und zu den Bauchtänzerinnen! Ja zum Leben! Ja zum Bordell! Und ja zur Verhöhnung!

Quelle: Dominique Noguez, Lenin dada, Zürich 1990

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